Philosophie und Literatur
Aktuelles Projekt (siehe auch: www.unilu.ch/christine-abbt)
(Überblick in deutscher Sprache)
„Fremd- und Vieltuerei”. Zur Verwirklichung demokratischer Freiheit in Formen des Nicht-Identischen
Das Begriffspaar „Fremd- und Vieltuerei“ steht in einer langen philosophischen Tradition in Verruf. Wo die Demokratie abgelehnt wird, wie etwa bei Platon, gilt der Demokrat als Fremd- und Vieltuer. Wo die Demokratie angestrebt wird, wie etwa bei Rousseau, ist der Fremd- und Vieltuer das Gegenteil eines demokratiefähigen Subjekts. Die Einschätzung der Bedeutung von Kunst für die politische Ordnung ist davon nicht unberührt. Wo der Künstler nicht (nur) die eigene Sicht auf die Welt gestaltet, mutiert er zu einer Art ästhetischem Fremd- und Vieltuer. Sein Tun erscheint suspekt. Das geplante Projekt fragt demgegenüber nach dem Beitrag ästhetischer Fremd- und Vieltuerei zugunsten von Freiheit und Demokratie. Wenn Schreibende sich darum bemühen, eine fremde Perspektive möglichst loyal darzustellen, um zu zeigen, was es heisst, in der Welt vorzukommen, betreiben sie, so das hier vorgeschlagene Verständnis, aktiv Fremd- und Vieltuerei zugunsten demokratischer Freiheit. Dabei suchen sie nach geeigneten Formen, mit denen das Andere, das Nicht-Identische, möglichst adäquat Ausdruck finden kann. Inwiefern mit und durch diese Gestaltungsmittel und ästhetischen Strategien ein eigenständiger Beitrag geleistet wird und zwar sowohl zur Verwirklichung der Freiheit als auch zur demokratie-theoretischen Frage, wie Freiheit als Selbstgesetzgebung zu bestimmen ist, steht im Projekt zur Untersuchung. Ausgehend von Denis Diderots Überlegungen zum Verhältnis von Form und Freiheit und dessen Texten, die an der Grenze zwischen Philosophie und Literatur und insbesondere auch an der Grenze zwischen Epik und Drama eine eigene Formsprache für das Fremde und Plurale entwickeln und entsprechend ein hohes Mass an philosophischer Literarizität aufweisen, gilt es, die Formen des Nicht-Identischen in Texten von Schreibenden des 20. Jahrhunderts exemplarisch zu analysieren und deren Gehalt kritisch zu befragen.
Dieses Projekt bildet das Zentrum der Forschung als SNF-Förderungsprofessorin in Philosophie an der Universität Luzern. Am Lehrstuhl und Projekt arbeiten mit:
- Frau Daniela Herzog (wiss. Hilfsassistentin)
- Herr Nahyan Niazi (wiss. Assistent)
- Frau Susanne Schmieden (wiss. Assistentin)
- Frau Leire Urricelqui (wiss. Mitarbeiterin/GSL)
Ältere Projekte:
Die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Literatur ist seit den Anfängen der Philosophie eine mit besonderer Brisanz. Ihre Beantwortung hat grundlegende Konsequenzen für das Selbstverständnis von Philosophie. Es überrascht daher nicht, dass die Diskussion dazu intensiv geführt wird. Vier Zugänge zum Verhältnis spielen in bereits abgeschlossenen oder aktuellen Projekten von mir eine wichtige Rolle. Diese sind:
1. Philosophie und Literatur
Wie bestimmt die Philosophie ihr Verhältnis zur Literatur? Die Frage bedarf einer eigenen Untersuchung. Mich interessiert insbesondere die Auseinandersetzung, die dazu in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zugespitzt ab etwa 1980, geführt worden ist. Vier grundlegende philosophische Perspektiven auf das Verhältnis von Philosophie und Literatur sind dabei auseinander zu halten:
- Philosophie und Literatur
- Philosophie als Literatur
- Philosophisches Interesse an Literatur
- Literarizität von Philosophie
Eine Einführung in die Kontroversen um das Verhältnis zwischen Philosophie und Literatur in philosophischen Texten ab 1980-1999 ist von mir vorgesehen im Rahmen des Projekts “Philosophy and Literature”. The aporetics of post-theory liberal arts (PALLAS) von Christian Benne, Denmark. Informationen unter: www.sdu.dk
2. Ethik und Ästhetik
Im Zentrum meiner Dissertation steht ein häufig vernachlässigtes Problem philosophischer Ethik: das Problem der Sprachlosigkeit. Ein Subjekt, das sich weder in politische Diskurse noch in ethische Urteilsfindungen einbringt, bleibt in der Forschung weitgehend ausgeklammert. Die Frage nach einer angemessenen Repräsentation für diese sprachliche Abwesenheit stellt sich nicht nur an einzelne Stellvertreter, sondern auch an die Sprache der Philosophie. Wie kann eine Sprache gefunden werden, die dem Fehlen von Sprache adäquat Ausdruck verleiht? Die Literatur ist der Philosophie diesbezüglich voraus. Welche formalen Strategien und Möglichkeiten sie einsetzt, um den Sprachlosen Stimme zu verleihen, ohne deren Sprachverlassenheit respektive Sprachverweigerung auszublenden, wird an ausgewählten Beispielen der Literatur verdeutlicht und in Auseinandersetzung mit philosophischen Ansätzen reflektiert. Literatur wird hier aus ethischem Interesse an den ästhetischen Möglichkeiten untersucht.
Publikation: Der wortlose Suizid. Die literarische Gestaltung der Sprachverlassenheit als Herausforderung für die Ethik, München (Fink) 2007.
3. Sprache, Identität und Politik
Der vielfältige Zusammenhang von Sprache und Identität interessiert mich. Gerade in der gegenwärtigen Politik ist dieser Zusammenhang zum Beispiel ein oft beschworener, wenn wiederholt die Möglichkeit einer Einbürgerung an die Bedingung gekoppelt wird, dass jemand eine Landesprache beherrscht. Dass zwischen Identität, Sprache und Integration eine enge Wechselbeziehung besteht, wird dabei vorschnell als gegeben angenommen. So wie wenn es sich dabei um ein kaum mehr weiter hinterfragbares Narrativ gegenwärtiger Migrationspolitik handelte! Obwohl viele Argumente gegen die Stichhaltigkeit dieses Narrativs sprechen, wirkt es politisch fort. Die Wirkung von Narrativen und deren politische Instrumentalisierung interessieren mich:
- Konstruktionen politischer Gemeinschaften: Funktionen von Mythen, von kollektivem Erinnern und Vergessen
- Amerika und Europa. Das transatlantische Verhältnis im Spiegel von Literatur und Philosophie
- Das deutsche Wirtschaftswunder in Literatur und Philosophie nach 1945
Die Wirkungsweisen des Erzählens im Unterschied zur Wirkung anderer sprachlicher Formen:
- Moralische, therapeutische und politische Wirkung des Erzählens
Publikation: Erzählen rettet Leben. Liebeserklärungen der Literatur an sie selbst, stark überarbeitete Fassung der Lizentiatsarbeit, vorgesehen 2013.
Darüber hinaus beschäftige ich mich mit Fragen zu künstlichen Sprachsystemen, die im Dienste politischer Interessen entworfen oder entwickelt wurden. Der Traum einer universalen, allen verständlichen Sprache und die politischen Implikationen solcher Entwürfe:
- Universalsprachen. Entwürfe und Reflexionen in Literatur und Philosophie seit der Neuzeit: z.B. Esperanto und die Idee des Völkerbunds
- Codes. Künstliche Sprachen in der Politik, ihre Funktion, ihr Scheitern
4. Philosophie und Philologie
„Je pense, donc j’écris.“ (Alexis Lacroix, 2009) Fragen nach der textuellen, materialen und editorischen Verfasstheit von Philosophie sind nicht neu. Romantische Literatur-Philosophen wie etwa Friedrich Schlegel haben den Zusammenhang zwischen Philosophie und Philologie früh herausgestrichen. In jüngerer Zeit findet dieses Verhältnis vermehrt wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Mit gutem Grund, hier gibt es m.E. grossen Nachholbedarf.
Einige Aspekte:
- Materiale und editorische Bedingungen von Philosophie
- Philologie als Philosophie; Philologie aus philosophischem Interesse
- Autorschaft und Form; Individualität und Ausdruck
- Zeichensetzung und Satzzeichen in der Philosophie
Publikation zusammen mit Tim Kammasch: Punkt, Punkt, Komma, Strich. Geste Gestalt und Bedeutung philosophischer Zeichensetzung, Bielefeld (transcript) 2009.